Was zunächst sehr theoretisch klingt, hat ganz einfache Hintergründe: In den unterschiedlichsten Bereichen stehen Menschen vor „was wäre wenn …?“-Fragestellungen, die nicht direkt beantwortet werden können. Was passiert, wenn die Turbine schneller dreht als geplant? Wie kann man eine ungeplante Großbestellung abwickeln und ausliefern? Wie ist der weitere Verlauf einer Grippeepidemie?
Das Problem bei derartigen Fragestellungen ist, dass viele Faktoren zusammenspielen, die es unmöglich machen, eine direkte Antwort zu geben. Ein reales Experiment ist oft nicht möglich, da es zu teuer oder ethisch nicht vertretbar wäre. Man kann nicht zu Testzwecken große Industrieanlagen bauen, und man kann keine Experimente mit grippekranken Personen durchführen. Die Statistik beschränkt sich in der Regel darauf, Aussagen über vorhandene Daten zu treffen, ist aber nicht in der Lage, die Auswirkungen neuer Faktoren vorherzusagen.
Genau an diesem Punkt kommen Simulationsmodelle ins Spiel, um Systeme nachzubilden und deren Entwicklung über einen Zeitraum vorherzusagen. Historisch gesehen begann Modellbildung und Simulation im Bereich der Physik. Physikalische Systeme sind gut beschreibbar und in vielen Bereichen messbar. Die Fragestellungen wurden in der Regel mittels Differentialgleichungen beschrieben und mit Zettel und Papier gelöst. Im 20. Jahrhundert wurden durch die Entwicklung von Computern deutlich aufwändigere Berechnungen möglich und es wurden zahlreiche neue Bereiche erschlossen (beispielsweise Logistik, volks- und betriebswirtschaftliche Entwicklungen, Gesundheitssysteme).
Es wurden neue Methoden entwickelt, und es zeigte sich, dass diese Methoden bei Fragestellungen in sehr vielen unterschiedlichen Bereichen anwendbar waren. Aufbauend auf Differentialgleichungen wurde System Dynamics entwickelt, mit dem beispielsweise öffentlichkeitswirksam durch den Club of Rome ein Modell gebaut wurde, welches die Entwicklung von Ressourcen und Grenzen des Wachstums auf der Erde aufzeigt. Es wurden zelluläre Automaten erfunden und in Folge Lattice-Gas-Automaten, mit denen erfolgreich der Blutfluss in Blutgefäßen simuliert werden konnte. In der Logistik wurden Discrete-Event-Modelle entwickelt (welche mittlerweile unter anderem auch in der Gesundheitsökonomie angewendet werden), weil damit Krankheitsverläufe und Behandlungen von Patienten sehr gut abgebildet werden können.
Für ökonomische Entscheidungen werden häufig entscheidungsanalytische Modelle eingesetzt, welche auf Markov Modellen und Entscheidungsbäumen aufbauen. Ende der 1990er Jahre wurden durch gestiegene Rechenleistungen in Computern erstmals agentenbasierte Modelle gebaut, welche darauf abzielen, die kleinsten relevanten Einheiten eines Systems explizit zu modellieren. Heute finden agentenbasierte Modelle immer häufiger Verwendung bei der Modellierung einer großen Anzahl an Personen und deren individuellem Verhalten, beispielsweise bei Entwicklung von Strategien für Epidemien, für Fluchtwege oder für wirtschaftliche Aspekte.
Heutzutage werden Simulationsmodelle in vielen Bereichen angewendet. In Gesundheitssystemen ist es in der Regel erforderlich, neue Medikamente und Behandlungen mittels Simulationsmodellen zu evaluieren. Beispielsweise evaluieren „cost-effectiveness“-Studien Kosten und Nutzen der neuen Behandlung im Vergleich zur bestehenden Behandlung. Typische Resultate sind dann Kosten pro gewonnenes Lebensjahr oder pro Lebensjahr mit höherer Lebensqualität. Auf Basis solcher Ergebnisse können Gesundheitssysteme nicht nur über Zulassungen entscheiden, sondern auch Preisverhandlungen führen. Auch bei Epidemien werden Simulationen eingesetzt, in Österreich beispielsweise bei den Folgen des Einsatzes eines Pneumokokken-Impfstoffs für Kinder und bei Impfstrategien zur angestrebten Ausrottung von Masern. In Österreich wird auch an Methoden zur Blutfluss-Simulation geforscht, um Herz-Kreislauferkrankungen frühzeitig und nicht-invasiv (beispielsweise durch Blutdruckmessungen) erkennen zu können. Simulationsmodelle werden auch verwendet, um die Bevölkerungsentwicklung und Demographie aufgrund von Geburten, Todesfällen, Abwanderung und Zuwanderung zu prognostizieren. Diese Ergebnisse werden für zahlreiche Planungen herangezogen. Simulationen werden auch zur infrastrukturellen Planung eingesetzt, beispielsweise bei Fluchtwegsimulationen in Gebäuden oder bei Veranstaltungen. An der TU Wien wurden unterschiedliche Raumnutzungskonzepte im Hinblick auf Auslastung während eines ganzen Semesters simuliert. Dadurch konnte bei der Sanierung eines Gebäudes die Anmietung von zusätzlichen Büroräumen verhindert werden.
Bei der konkreten Anwendung muss klar sein, dass ein derartiges Modell zwar eine Art virtuelles Labor darstellt, aber in jedem Fall ein vereinfachtes Abbild der Realität ist.
Die Kunst der Modellbildung und Simulation besteht darin, für eine Fragestellung die passendste Methode auszuwählen und alle relevanten Aspekte zu berücksichtigen. Ein Modell soll gerade so komplex sein wie nötig, aber so einfach wie möglich. 100%ige Korrektheit ist bei einer „was wäre wenn…?“-Fragestellung nie erreichbar. Demzufolge bezeichnet man ein Modell als valide, wenn es die Fragestellung in zufriedenstellendem Maße beantwortet. Ein wesentlicher Aspekt der Modellbildung und Simulation ist daher die Validierung, bei der während des gesamten Modellbildungsprozesses immer wieder die Validität des Modells hinterfragt und verbessert wird. Und auch nach der Präsentation der Ergebnisse ist es wesentlich, die getätigten Vorhersagen mit den realen Entwicklungen abzugleichen, um das Modell gegebenenfalls zu verbessern. Nur durch konsequente Validierung ist es schließlich möglich, dass die Ergebnisse von Simulationsmodellen Glaubwürdigkeit und Akzeptanz erlangen.
Autor: Florian Miksch